Kürzlich strahlte die ARD zum siebzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz einen noch nie veröffentlichten Dokumentarfilm aus. Dieser trägt den Titel „Night Will Fall“ und ist ein Werk des Filmproduzenten André Singer.
Singers Film basiert auf dem 1945 produzierten „Tatsachenbericht über die deutschen Konzentrationslager“, einer Dokumentation des britischen Filmproduzenten Sidney Bernstein über die Befreiung der Lager Bergen-Belsen, Majdanek, Auschwitz, Buchenwald und Dachau, zu der später auch Alfred Hitchcock hinzustieß, da Bernstein Hilfe bei der Zusammenstellung des Materials brauchte. Zudem ist Hitchcock dafür bekannt, Filme so zu konzipieren, dass sie einem regelrecht unter die Haut gehen. Und genau das sollte mit der Dokumentation erreicht werden. Bernstein produzierte den Film, um allen beweisen zu können, dass die barbarischen Gräueltaten, die an den unvorstellbar vielen jüdischen Menschen verübt wurden, tatsächlich passiert sind. Das Material sollte den Deutschen gezeigt werden, da viele den Holocaust, obwohl doch nachweislich alle davon gehört hatten, verleugneten. Dennoch bekamen nur vergleichsweise wenig deutsche Bürger den Film zu Gesicht, da man zu Beginn des kalten Krieges die Deutschen nicht demütigen, sondern vielmehr als zukünftige Verbündete gegen die Sowjetunion gewinnen wollte.
In den Aufnahmen der sowjetischen, britischen und amerikanischen Armeen, und auch in denen von SS-Leuten, sind stapelweise (diese Beschreibung klingt roh, aber sie ist treffend) tote, vollkommen ausgezehrte Menschen, ohne ein einziges Gramm Fett am Körper zu sehen; tote Gesichter, mit eingefallenen Wangen, aufgerissenen Augen und Mündern; Gesichter, denen der halbe Kiefer fehlt oder die von Schusswaffen durchlöchert sind; Menschen, die Tote auf ihrem Rücken zu Massengräbern schleppen und hineinwerfen, so als ob die Toten Müll wären. Zwischen diesen schrecklichen Aufnahmen aus den Lagern blendet Singer immer wieder Interviews mit Zeitzeugen ein, sowohl britische, sowjetische und amerikanische Soldaten, die die KZ’s befreiten, als auch mit jüdischen Opfern, die dieses Grauen überlebten. Bernsteins Dokumentation gepaart mit den Erzählungen dieser Menschen macht es einem schwer, die Fassung zu wahren und macht es einem gleichzeitig leicht, wirklich zu verstehen, welches Verbrechen während des zweiten Weltkrieges an den Juden verübt wurde. Es ist wahrscheinlich, dass jeder Deutsche schon einmal eine Dokumentation über die unmenschlichen Morde an den Juden in den Konzentrationslagern gesehen hat, und auch dass das alles in der Schule thematisiert wird. Aber ich persönlich habe so furchtbare Bilder wie in „Night Will Fall“ noch nie zu Gesicht bekommen, vermutlich weil sie zu „brutal für den Alltag“ sind, doch sie zeigen genau, was die Soldaten der Befreiungsmächte damals vorfanden, als sie die Lager stürmten. Es zeigt, welche Verbrechen die Nationalsozialisten an der Menschheit verübten, wie entmenschlicht die jüdischen Gefangenen damals wurden.
Der KZ-Überlebende Max Mannheimer äußerte sich kürzlich in einem SPIEGEL-Interview im Zusammenhang mit dem Jubiläum der Befreiung der Menschen aus Auschwitz. Er ist der Auffassung, dass die Menschen nichts aus Auschwitz gelernt haben und sagt, mit Hinblick auf die PEGIDA-Bewegung, dass die Täter von einst auch brave Steuerzahler waren. Es ist schade, dass nicht jeder einzelne der deutschen Bevölkerung direkt nach dem Krieg dazu gezwungen wurde, Bernsteins „Tatsachenbericht über die deutschen Konzentrationslager“ zu sehen. Denn es stellt sich mir die Frage, ob es dann heutzutage weniger Neo-Nazis oder generell weniger Leute gäbe, die stumpf und taub gegen Ausländer und Asylanten wettern- ohne fundierte Gründe, einfach nur aus Hass und eingebildeter Angst- wenn schon ihre Eltern oder Großeltern direkt mit dem Grauen, dass sie nicht verhindern oder überhaupt erst wahrnehmen wollten, konfrontiert gewesen wären.
Die Bilder, die Bernstein zusammentrug und Singer jetzt in seine Dokumentation einbaute, sind das grausamste, was ich jemals gesehen habe, auch wenn mir klar war, was in den Konzentrationslagern geschehen ist, aber solche Bilder habe ich dennoch nie zu Gesicht bekommen. Niemand sollte die Unmenschlichkeit vergessen, die den Tod von 6 Millionen Juden bedeutete, auch wenn manche Stimmen auf einen „Schlussstrich“ plädieren. Aber den kann und darf es nie geben, denn auch wenn man anführen könnte, dass wir jungen Leute mittlerweile schon in der dritten Generation nach dem 2. Weltkrieg leben, so sind wir doch Deutsche und vor allem Menschen, und die Erinnerung an diese unbeschreiblichen Taten kann uns daran hindern, so etwas jemals wieder passieren zu lassen. Wenn wir es denn verstanden haben.
In der ARD-Mediathek ist „Night Will Fall“ täglich von 20-6 Uhr einsehbar.
„Night Will Fall“ in der ARD-Mediathek
SPIEGEL-Interview mit Max Mannheimer