Schlagwort-Archive: 9/11

WANTED: „Reality“ dead or alive

Herr der Ringe, Harry Potter, Narnia? Oder lieber Operation Walküre, Der Soldat James Ryan und World Trade Center?

Nehh, zu viel Realität.

Bildschirmfoto 2015-11-23 um 22

Quelle: https://www.facebook.com/PoliticalCorrectnessGoneWild/photos

Es reicht ein einziges Foto. Mehr als ein Dutzend der Opfer vom 13. November 2015 sind darauf abgebildet, eine unzensierte Aufnahme direkt vom Tatort, dem Konzertsaal „Bataclan“ in Paris. Über 30.000 Mal auf Facebook geteilt, knapp 3000 Kommentare. „Das will doch niemand sehen!“, wettert die eine Partei. „Das ist unsere Wirklichkeit!“, wird dagegen gehalten.

Gerade jetzt, wo in den öffentlichen Medien Bilder und Videos der grausamen Realität der Pariser Anschläge kursieren und tausende Menschen sich zur nackten, unverfälschten Darstellung der Wahrheit äußern, stellt sich die Frage:

Wieviel Realität kann der Masse, dem Publikum überhaupt zugemutet werden?

Ein umstrittenes Thema, für das die Ereignisse des 9/11 und die Darstellung besagten Terrors in dem Massenmedium „Film“ uns als Beispiel dienen soll.

„Flug 93“ (Original: United 93) aus dem Jahre 2006, ganze 5 Jahre nach der Katastrophe, war einer der ersten markanten Spielfilme, der sich mit dem bis dato in der Filmindustrie so gut wie totgeschwiegenen Thema befasst hat. Unter der Regie von Paul Greengrass wurden die Ereignisse an Bord des Flugzeuges der United Airlines, Nummer 93 aufgearbeitet, welches am 11. September 2001 von Al-Quaida Terroristen entführt wurde.

Als einziges der vier entführten Flugzeuge gelang es hier den 33 an Bord befindlichen Passagieren, die Entführer zu überwältigen, sodass der Flieger nichtmal New York erreichte, sondern in einem Feld in Shanksville, Pennsylvania abstürzte. Niemand an Bord überlebte den Aufprall.

 

Der Umgang mit der schmerzlichen Wahrheit

Mit dem Ziel eine „glaubhafte Wahrheit“ zu konstruieren, besetzte Greengrass seinen Film mit Laien, unbekannten Schauspielern und Stewardessen, unter anderem auch Zeitzeugen und tatsächlich an den Geschehnissen beteiligt gewesenen Fluglotsen.

Schon der Trailer wurde von vielen US-amerikanischen Kinos aus dem Programm gestrichen mit der Begründung es wäre „zu früh“ und der Film würde die Geschehnisse zu real und wirklichkeitsnah abbilden.

Nach der Weltpremiere in New York dann aber die Stimmen der anderen Seite:

USA Today sprach von dem „aufwühlendsten und fesselndsten Film des Jahres und auch ein beächtlicher Teil der Kritiker schloss sich dieser Meinung an.

„Der Film ist eine brilliante, fast unerträgliche, aber absolut notwendige Rekonstruktion des Grauens.“ (Marc Pitzke, Spiegel Online)

Selbst Angehörige von Opfern des 9/11, denen der Spielfilm auf der Galapremiere vorgeführt wurde äußerten sich positiv gegenüber der unverfälschten Darstellung in Greengrass‘ Werk:

„Wer sich traut“, sagt Jack Grandcolas, der am 11. September 2001 seine Frau Lauren verlor, „sollte diesen Film unbedingt sehen.“ Sicher, es sei keine angenehme Erfahrung, ergänzt Ben Wainino, dessen Tochter Honor Elizabeth unter den Opfern war. „Doch ich will, dass die Leute sich unangenehm fühlen.“ (Marc Pitzke, Spiegel Online)

 

Was soll ausgelöst werden?

Es ist unbestreitbar, dass die Aufarbeitung von Ereignissen wie 9/11 ganz gleich in welcher Weise ein beklemmendes Gefühl hervorruft.

Ist das der Zweck solcher Filme, die die Realität nicht durch einen Schleier von Ideologie, Patriotismus oder politischen Einflusses aufdecken? Zu beklemmen?

Wofür sind sie da? Zeigen sie dem Zuschauer neue Facetten dessen, was sie glauben zu kennen? Bieten sie neue Perspektiven, einen vollkommen neuen Blickwinkel? Sind sie da um abzuschrecken, zu schockieren, wachzurütteln, auf ihre eigene Art und Weise zu informieren?

Gerade Letzteres sollte uns alle interessieren. Schließlich wäre es doch soviel einfacher, unschöne Ereignisse totzuschweigen, ihnen so gut es geht aus dem Weg zu gehen, um alles erst einmal sacken zu lassen. So ging es der Filmindustrie nach 9/11 schließlich auch, Drehbücher wurden komplett neu aufgesetzt, Szenenmaterial neu zusammengeschnitten und überarbeitet, „Spider Man“ Kinoplakate, auf denen der Superheld zwischen den Türmen des World Trade Centers zu sehen ist, wurden beseitigt, Filme wie der Thriller „Collateral Damage“ mit Arnold Schwarzenegger, der noch vor den Anschlägen produziert wurde und sich mit einem Terroranschlag befasste, in ihrer Veröffentlichung ein ganzes Jahr nach hinten verschoben. Nur einige wenige der zahlreichen Maßnahmen.

Dass dieser Tag jedoch nicht lange ein filmisches Tabu bleiben sollte, war absehbar. Dass Hollywood 9/11 nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, vorausschaubar. Dass es Kritiken von allen Seiten hageln würde, Anschuldigungen des „zu real„, zu „wirklichkeitstreu„, von vornerein klar.

Doch die Frage:

Gibt es ein zu real? Gibt es ein zu wirklichkeitstreu? Wo ist die Grenze des Zumutbaren? Und ist es Sache des Einzelnen, des Individuums festzulegen, wieviel Realität er ertragen kann?

Was fühlst du, wenn du dieses Bild vom 13. November betrachtest?

Was ist deine Realität?