Italien ist das Land, in dem so häufig wie in keinem anderen Land Europas im Fernsehen über Entführungen, Vergewaltigungen und Morde berichtet wird. Hierbei werden von Fernsehjournalisten, aber auch von der Gesellschaft an sich, oftmals rechtliche und auch ethische Grenzen überschritten. Anfang Oktober konnte man auf etlichen italienschen Webseiten eine Audiodatei mit dem Geständnis eines Mannes finden, der seine eigene Nichte erdrosselt, sich an ihr vergangen und sie dann in einen Brunnen geworfen haben soll. Es ist ein Mitschnitt aus dem Vernehmungsraum der Polizei. Nur wenige Medien stellen diese Aufzeichnungen nicht auf ihre Homepage, manche veröffentlichen ganze Seiten zu den Protokollen. Rai, das öffentlich-rechtliche Fernsehen Italiens, sendete einen Teil des Geständnisses an einem Sonntagnachmittag und lässt, um das Ganze noch anschaulicher zu gestalten, die Szene von Schauspieler nachstellen.
Die Mutter des fünfzehnjährigen Opfers, welches bis zu diesem Zeitpunkt als vermisst galt, erfährt live in einer Fernsehsendung der Rai (gemeinsam mit rund 3,7 Millionen Zuschauern) vom Tod ihrer Tochter. Zu dem rechtlichen Fehler, Audiodateien während einer laufenden Ermittlung zu veröffentlichen, hat sich somit ein unfassbar und unverzeihlicher ethischer Fehler gesellt. Die Live-Übertragung wird nicht unterbrochen.
Der Tatort wird wochenlang von Fernsehteams belagert, der Täter und dessen Tochter werden online vorgeführt. Nichts aus dem Leben der getöteten Sarah S. bleibt der Öffentlichkeit vorenthalten – in den Medien kursieren aus Facebook herunter geladene Bilder, sogar aus ihren Tagebüchern werden intime Details zitiert, die nichts mit dem Fall zu tun haben. Das Ganze natürlich nur, um „la bambina“ zu gedenken.
Ein Konstrukt der Medien? Eine Folge der Krise, die Möglichkeit, mehr Exemplare abzusetzen? Ein nicht entwickeltes Anstandsniveau der italienischen Bevölkerung?
Tatsache ist, dass in Italien die Quote selbst für das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine bedeutende Rolle spielt, hinzu kommt eine wenig ausgeprägte Medienerziehung. Fakt ist außerdem, dass ein Großteil der Italiener die Informationen aus dem Fernsehen und nicht aus Tageszeitungen bezieht. Dadurch kann man das ganze Ausmaß dieser Geschichte, das Verhalten der Medien und Menschen in keiner Weise verständlicher machen oder erklären. Die einzige Hoffnung ist, dass ethische und rechtliche Werte und auch der Mensch und seine Würde an sich in Zukunft wieder wichtiger werden als Einschaltquoten oder Klickzahlen.
Quelle:
Alviani, Alessandro (Dezember 2010) in: Das Medienmagazin. Journalist: Die kleine Sarah mit den Bambiaugen, Nr. 12, S. 77-79
Die Story klingt natürlich schlimm, als Leser denkt man schnell „sowas wäre bei uns nicht möglich“. So großartig anders als in Italien läuft es in Deutschland aber auch nicht, denkt man mal ans Beispiel Natascha Kampusch- da wusste man schließlich auch ziemlich viel. Und auch die ethischen Verfehlungen sind nichts wirklich ungewöhnliches, ich erinnere mich noch gut daran, dass die Eltern des ersten Schul-Amok-Läufers damals in Erfurt später in einem Interview sagten, sie hätten dadurch bemerkt,dass ihr Sohn der Attentäter sei, dass die Bild-Zeitung vor der Tür stand…
Hier stellt sich zurecht die Frage, wie weit dürfen Medien gehen? Ich finde, dass man nicht um jeden Preis alles veröffentlichen darf. Was ist mit der Würde der Opfer beziehungsweise der Betroffenen? Und sollte die Polizei die Verwandten nicht warnen? Wie schlimm muss es sein, dass die Medien dir überbringen, dass deine vermisst geglaubte Tochter tot ist…
Falls sich noch jemand daran erinnert, genau zu diesem Thema gab es im Journalist, den wir während der ersten Vorlesung von Herrn Bucher mitnehmen konnten einen Artikel.
Ich glaube es war ein Interview mit einer Mutter, die ihre Tochter beim Amoklauf von Winnenden verloren hat und wie sie die Behandlung durch die Presse erfuhr.
Traurigerweise haben Medien die Eigenschaft entwickelt, gewisse Themen auszuschlachten und Tabus zu brechen. Bestes Beispiel ist in Deutschland wahrscheinlich die Bild-Zeitung, die sich wirklich für nichts zu schade zu sein scheint und menschliches Leid gerne auf ihrer Titelseite zur Schau stellt. Bedenklich ist auch, dass dies letzendlich ankommt.
Im Fall Winnenden gab es zumindest Leserbeschwerden beim Deutschen Presserat zu Artikeln und Bildern in Zeitungen und Zeitschriften – in Italien reichte niemand Beschwerde ein.