„To whom it may concern.“

Musikidole wie Trent Reznor (u.a. Nine Inch Nails) und John Frusciante (u.a. ehem. Gitarrist der Red Hot Chili Peppers) nutzen die Möglichkeiten die es bietet, junge Künstler wie The XX oder Lily Allen haben ihm den größten Teil des Erfolgs zu verdanken. Dass das Internet sich als gute und günstige Werbe- und Vertriebsplattform von Musik, aber auch Filmen und anderen Unterhaltungsmedien eignet, dürfte inzwischen den meisten klar sein. Gerade Virales Marketing – über Netzwerke und Internetseiten ausgelöste, gesteuerte Mundpropaganda, die sich wie ein „Virus“ verbreiten soll – erfreut sich großer Beliebtheit, grade bei Filmproduzenten: J. J. Abrams zum Beispiel nutzte für seinen Film „Cloverfield“ MySpace um die fiktionalen Charaktere aus dem Film vorab „lebendig“ zu machen, verbreitete über YouTube inszenierte Nachrichtensendungen, die über die Ereignisse aus dem Film berichteten, und ließ Websites erstellen, die die Nutzer wie bei einer Schnitzeljagd näher an den Film führen sollten. Ein aktuelleres, bekanntes Beispiel ist der „JK Wedding Entrance Dance“ auf jeglichen Videoplattformen (YouTube, Clipfish, etc…) der Chris Brown’s Lied „Forever“ promoten sollte. Allgemein ist zu beachten, dass die Mundpropaganda normalerweise kontrolliert und gesteuert wird: einflussreiche Blogs und/oder Magazine des relevanten Umfelds werden informiert und gemeinsam mit Crowdsourcing genutzt um die Anfänge der Kampagne zu unterstützen und Aufmerksamkeitsschwerpunkte der Zuschauer zu lenken.

Wer sich in letzter Zeit ein wenig in der Musikszene umgehört hat, hat eventuell mitbekommen wie das Prinzip des viralen Marketings auf eine neue Ebene verfrachtet wurde. „Iamamiwhoami„, inzwischen ziemlich sicher als die schwedische Indie-Pop Sängerin Jonna Lee identifiziert, fing am 4. Dezember 2009 an monatlich Musikvideos auf YouTube zu veröffentlichen in denen sie sich in Begleitung von synthie- und basslastiger, elektronischer Musik und später auch seltsam proportionierten, männlichen Gestalten sowie ihrer elektronisch verzerrten, hohen Stimme, in seltsamen Flüssigkeiten räkelt, Arme aus Bäumen wachsen lässt und ihre Zunge an denselbigen streicht. Wahrlich der feuchte Traum eines Dendrophilen, wie treffend von MTV-Redakteur James Montgomery hier bezeichnet. Ich werde ihm die genauere Beschreibung der Videos überlassen, die später aus der Thematik „Wald“ heraustreten und in einem Labyrinth aus Pappkartons weitergedreht werden… wahrlich gruselig, verwirrend und eigentlich nicht zu beschreiben. Auch die Titel der Videos sind kryptisch: Zahlencodes werden von einzelnen Buchstaben abgelöst, die beide danach verlangen entschüsselt zu werden. Wie groß das „Einzugsgebiet“ der interessierten und engagierten Menge ist zeigt sich an den Spekulationen, die sich lange um die Identität der Person hinter den Videos rankten: Trent Reznor, Aphex Twin und The Knife waren zusammen mit Lady Gaga und Christina Aguilera im Gespräch, Künstler wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten.

So weit, so unrevolutionär was das Prinzip des viralen Marketings betrifft, sieht man davon ab, dass sich die Lebensdauer des Projekts sich bereits über ein Jahr hinzieht und noch nicht zu Ende zu sein scheint. Vor knapp zwei Monaten allerdings erschien ein sehr kurzes Video auf Iamamiwhoami’s YouTube-Channel indem sie um einen Freiwilligen bittet und ein Konzert für den 16.11.10 ankündigt. Nach zwei weiteren Videos erschien auf ihrem Channel am 12.11.10 ein Videotagebuch (im Amateur-Stil gehalten) des von der Community ausgesuchten Freiwilligen, der im Verlauf des Tagebuchs zeigt wie er von Berlin-Tegel nach Schweden fliegt um dem privaten Konzert beizuwohnen. Auch hier ist alles mysteriös gehalten, man sieht Personen in sein Hotelzimmer treten um ihm Anweisungen zukommen zu lassen doch bis zum Tag des Konzerts wird nur wenig gesprochen und es werden keine Gesichter gezeigt. Das Konzert, was für 4 Stunden auf einer Website des Projekts abrufbar war, zeigt die Autofahrt des Freiweilligen zum Konzert (im Wald) und wechselt dann wieder auf eine professionelle Kameraführung. Das Konzert ähnelt schließlich weniger einem Konzert als einer Führung durch einen surrealen Wald mit skurrilen Ritualen,Tänzen mit musikalischer Begleitung und anschließender (inszenierter) Beisetzung und Hinrichtung des Freiwilligen – in der Reihenfolge. Welche Teile vom Konzert bereits vorbereitet und bei welchen der Freiwillige tatsächlich zugegen war bleibt dem Urteilsvermögen des Zuschauers überlassen, klar ist jedoch, dass es unmöglich war das einstündige Konzert an einem Stück zu drehen. Traurigerweise wurden im Anschluss an das Konzert jegliche Videos die damit in Verbindung standen vom Channel gelöscht und finden sich (illegalerweise) nur noch auf wenigen Fansites.

Verblüffend jedoch ist der unglaubliche Einbezug der Community in dem Projekt und dass es tatsächlich möglich war einige, sonst doch so anonyme Internetnutzern, dazu zu bringen ihre Adresse und Telefonnummer zu veröffentlichen (Pflicht für das Amt des Freiwilligen). Eine Frage die auch noch aussteht ist der Zweck des Projekts. Inzwischen gehen viele nicht mehr nur davon aus, dass es als gut gelungene Werbung für Jonna Lee’s (neue) Musik und damit einem wirtschaftlichen Zweck dienen soll, sondern auch das musikalische Konsumverhalten jedes Einzelnen aufzeigen soll; man schaue sich nur Szenen in den Kommentarsektionen unter Iamamiwhoami’s Videos an in denen immer schneller nach immer mehr verlangt wird und der Konsum das Genießen und Nachdenken über das Produkt verdrängt.

In vollem Bewusstsein hiermit selbst Teil des viralen Netzwerks zu werden, hier ein Link zum Ausgangsort des ganzen: http://www.youtube.com/iamamiwhoami und (ja, auf Wikipedia) eine gute, chronologische Auflistung des Geschehens.

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3 Gedanken zu „„To whom it may concern.“

  1. „Virales Marketing macht doch heute jedes kleine Handwärgaläh!“, um das schwäbische Internetphänomen dodokay2 zu zitieren.

    Das Internet beweist sich wieder einmal als das ganz große Zugpferd der Werbebranche. Aber wenn wir mal ehrlich sind, fällt uns auch keine bessere Plattform zum Promoten jedweder Dinge ein.
    Ob es jetzt darum geht durch Geheimniskrämerei (J.J. Abrams und iamamiwhoami) oder durch exklusive Appetithäppchen, wie zum Beispiel die vielen Leaflets zum letzten Dredg-Album „The Pariah, The Parrot, The Delusion“, Interesse zu wecken ist letzten Endes gleich.
    iamamiwhoami hat das Ganze jedoch wirklich auf die Spitze getrieben und Wirklichkeit par excellence erschaffen, wobei der Rezipient wie so oft derjenige war, der Welten um diesen einfachen Namen erschuf, die jede Größe überschreiten.
    Besonders nett ist die Idee des authentisierten Live-Auftritt-Materials, welches endgültig einen Künstler etabliert, den es so gar nicht gibt.
    iamamiwhoami kann sich nach diesem Akt problemlos mit Bands wie Daft Punk, den Gorillaz, wenn wir deutsche Äquivalente suchen, D.O.C.H. (aka Fettes Brot) und Dick Brave (Sasha) einreihen.

  2. Spätestens seit „Blair Witch Project“ sieht man ja, was für ein Ausmaß „Viral Marketing“ haben kann. Ein Film der für $22,000 gedreht wurde + ein bisschen „Viral Marketing“ im Internet (es wurde systematisch rumerzählt, dass es sich bei dem Film um eine wahre Geschichte und Aufnahmen handelt etc.) und schon bringt der Film ca. $248,639,099 ein.

    Genauso ist es nunmal bei Musikkünstlern, die versuchen mit einer neuen Idee Aufmerksamkeit zu erzeugen, um mehr Platten zu verkaufen. Es gibt natürlich auch Künstler die eine „intellektuelle, tiefgehende Nachricht“ mit solchen Videos übermitteln wollen. Aber das sind wohl wirklich nur die wenigsten (keine Ahnung, ob das Jonna Lee betrifft).
    Wenn man prominent ist, sind Community Plattformen wie YouTube, Facebook, etc. nunmal die beste Art Werbung zu machen ohne viel Geld auszugeben und gleichzeitig eine riesige Masse an Leuten anzusprechen.

    (Man muss sich nur mal angucken, wie viele Leute bei Twitter es interessiert, wenn Puff Daddy postet, dass er gerade auf dem Klo sitzt.)

  3. „Viral Marketing“ ist das eine -die Musikbranche und alle Beteiligten vor ein Rätsel zu stellen das andere.

    „Es wäre leichter gewesen ein Nacktvideo im Wald zu drehen!
    -Der zu erwartende Medienrummel und die damit auf das Video gelenkte Aufmerksamkeit wäre mit Sicherheit genauso groß gewesen.“, mag der Laie sagen.
    „Falsch.“, würde ich behaupten.
    Es sei anzunehmen, dass die Medienbranche konzentriert damit beschäftigt gewesen wäre, einen neuen Skandal aus eben diesem Video zu machen und eine kurze Welle der Aufruhe ginge durch die Boulevardzeitschriften und -Sender. Der einzige Unterschied ist bloß, diese Welle der Aufruhe wäre nur von kurzer Dauer gewesen. Darauf bedacht, ständig neue Exklusivität verbunden mit einer stetig wachsenden Nachfrage an Extremen zu finden, wäre das Interesse an letztendlich „nur einem weiteren“ entblößtem Körper verschwindend gering und schnell verblasst.
    Jonna Lee, nehmen wir an Sie ist es nun tatsächlich, hat es allerdings genau das Gegenteil bewirkt. Sie hat es tatsächlich geschafft, das Medieninteresse für einen langen Zeitraum auf sich zu ziehen. Viel mehr noch; sie hat Verwirrung gestiftet und den Medien ihre größte Leidenschaft überlassen. –das Spekulieren. Denn genau darin liegt doch der Reiz, den die Gesellschaft verspürt und dem die Medien gekonnt nachgehen. Man will spekulieren können, Vermutungen in den Raum stellen, Gerüchte entstehen lassen.
    Ich gehe nicht davon aus, dass dieses ausgeklügelte System der Codierung und aufeinander aufbauender Videobotschaften rein zu kommerziellen Zwecken entstanden ist. Viel mehr glaub ich, dass Jonna Lee mit den Medien spielt. Vielleicht besteht genau darin ihre Absicht, einfach mal zu schauen, was aus ihren Videos verstanden wird, wie sie interpretiert werden und welche Eigendynamik diese mysteriösen, anfangs noch anonymen Videoclips entwickeln.
    Denn ansonsten würde auch ich fragen:
    „Wäre es nicht leichter gewesen ein Nacktvideo im Wald zu drehen?“

    Also ist mein abschließendes Fazit:
    „Herzlichen Glückwunsch Jonna. –du hast es geschafft uns alle an der Nase herumzuführen. ….und so spekulieren wir fröhlich weiter über den Sinn dieser abstrakten Videos.“

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